72 Ursprünglicher Beitragsplan nach §§ 34/35 BauG
- Verhältnis des Verbots der reformatio in peius zu einer Neuauflage
eines Beitragsplans (Erw. 3.5.1. - 3.5.5.)
- Ein neuer Beitragsplan eröffnet dem betroffenen Eigentümer erneut
und in vollem Umfang den Rechtsmittelweg (Erw. 3.6.)
Aus dem Entscheid der Schätzungskommission nach Baugesetz vom 6. De-
zember 2006 in Sachen F. gegen Einwohnergemeinde B.
3.5.1. Es stellt sich somit die Frage, wie sich das Verbot der re-
formatio in peius mit der Möglichkeit einer Neuauflage des berichti-
gten Beitragsplans vereinbaren lässt. Das Gesetz schliesst die refor-
matio in peius in § 43 Abs. 1 VRPG nicht aus, jedoch knüpft es sie
an formelle und materielle Voraussetzungen. Verwaltungsbehörden
können Verfügungen und Entscheide zum Nachteil der Beteiligten
abändern aufheben, wenn sie der Rechtslage den sachli-
chen Erfordernissen nicht entsprechen und wichtige öffentliche In-
teressen es erfordern (§ 26 Abs. 1 VRPG). Zudem sind die Betroffe-
nen zuvor anzuhören (§ 43 Abs. 1 VRPG). Die Neuauflage eines
Beitragsplans stellt eine Widerrufssituation dar, weshalb zu prüfen
ist, ob der Widerruf zulässig ist.
3.5.2. Der Widerruf setzt zunächst voraus, dass die aufzuhe-
bende Verfügung der Rechtslage nicht entspricht. Sodann hängt er
von einer Interessenabwägung ab. Die aargauische Praxis legt diese
Umschreibung so aus, dass die öffentlichen (und privaten) Interessen
an der Durchsetzung des objektiven Rechts gegen das private (und
öffentliche) Interesse an der Rechtssicherheit und am Fortbestand der
bisherigen Ordnung im konkreten Fall (Vertrauensschutz) abzuwägen
sind (AGVE 1996, S. 292).
3.5.3. Als mögliche, einen Widerruf rechtfertigende öffentliche
Interessen im Bereich des Abgaberechts kommen namentlich die kor-
rekte Durchsetzung der Abgabebestimmungen, die Gleichbehandlung
aller Abgabeschuldner sowie finanzielle Überlegungen in Frage.
Entgegen einer älteren Lehrmeinung, wonach die fiskalischen,
d.h. finanziellen Interessen des Staates nicht zu den öffentlichen Inte-
ressen gehörten (darauf Bezug nehmend noch AGVE 1998, S. 204),
wird heute die Auffassung vertreten, dass auch ein öffentliches Inte-
resse daran besteht, den Staat mit den Mitteln auszustatten, die er für
die Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. Allerdings nehmen die
fiskalischen Interessen insofern eine Sonderstellung ein, als sie
grundsätzlich keine Eingriffe in Freiheitsrechte zu rechtfertigen ver-
mögen (vgl. Ulrich Häfelin/Georg Müller, Allgemeines Verwaltungs-
recht, 4. Aufl., Zürich 2002, N 552; Yvo Hangartner, St. Galler Kom-
mentar zur schweizerischen Bundesverfassung, Zürich/Basel/Genf
2002, Art. 5 N 29). Ein öffentliches Interesse ist zu bejahen, wenn
eine Gemeinde die ihr zustehenden geldwerten Ansprüche wirklich
geltend macht und durchsetzt. Es gehört mit zur ordnungsgemässen
und verantwortungsbewussten sowie sparsamen Führung des Finanz-
haushalts (§ 116 der Verfassung des Kantons Aargau vom 25. Juni
1980), dass gesetzlich vorgesehene Kausalabgaben erhoben werden
und nicht zu Lasten des allgemeinen Steuersubstrats darauf verzich-
tet wird. Unter diesen Umständen sind laut Verwaltungsgericht so-
wohl Widersprüche zur bestehenden Rechtslage zu bejahen, als auch
wichtige öffentliche Interessen berührt, selbst wenn es lediglich um
kleinere Beiträge geht (so Verwaltungsgerichtsentscheid [VGE]
III/23 vom 28. Februar 1991, Erw. II/4c). Etwas restriktiver hat das
Verwaltungsgericht in AGVE 1998, S. 204, festgehalten, dass das fi-
nanzielle Interesse des Gemeinwesens für sich allein kein überwie-
gendes Interesse abzugeben vermag, da ihm regelmässig ein ebenso
grosses finanzielles Interesse des Privaten entgegensteht. Es bedürfe
vielmehr eines zusätzlichen öffentlichen Interesses zur Rechtferti-
gung des Widerrufs. Als solch ein zusätzliches öffentliches Interesse
fällt die rechtsgleiche Behandlung der Abgabenbelasteten in Be-
tracht, da gerade im Bereich der Erschliessungsabgaben der gleich-
mässigen Lastenverteilung grosses Gewicht zukommt (AGVE 1998,
S. 204). Im Weiteren liegt das für den Bereich der Abwasserentsor-
gung geltende Verursacherprinzip im öffentlichen Interesse (Art. 60a
Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Schutz der Gewässer [Ge-
wässerschutzgesetz, GSchG; SR 814.20] vom 24. Januar 1991).
Würde beispielsweise eine Anpassung des Beitragsplans Abwasser-
versorgung immer zu Lasten der Gemeindekasse bzw. zu Lasten der
Steuerzahler und Steuerzahlerinnen erfolgen, so widerspräche dies
dem Gedanken der Kostenüberwälzung auf die Verursacher. Ebenso
sind die Gemeinden im Zusammenhang mit dem Strassenbau ver-
pflichtet - nicht nur berechtigt -, von den Grundeigentümern im
Sinne des Bundesrechts nach Massgabe der diesen erwachsenden
wirtschaftlichen Sondervorteile Beiträge zu erheben (§ 34 Abs. 1
BauG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 des Wohnbau- und Eigentums-
förderungsgesetzes [WEG; SR 843] vom 4. Oktober 1974 und Art. 1
Abs. 1 der Verordnung zum Wohnbau- und Eigentumsförderungsge-
setzes [VWEG; SR 843.1] vom 30. November 1981).
3.5.4. Das private Interesse an der Rechtssicherheit und am
Fortbestand der bisherigen Ordnung ist daher im Zusammenhang mit
der Auflage von Beitragsplänen gering, solange der Beitragsplan
bzw. die Summe von Einzelverfügungen (...) noch nicht insgesamt
rechtskräftig ist. Materielle Rechtskraft, d.h. Unabänderlichkeit von
Beitragsverfügungen, kann grundsätzlich frühestens mit Eintritt der
formellen Rechtskraft Einzelverfügungen in Erwägung gezogen
werden.
Unbestritten ist sodann, dass am 25. April 2003 eine Orientie-
rung und Anhörung des Beschwerdeführers stattgefunden hat. Dabei
war auch eine Erhöhung des Beitrags des Beschwerdeführers
thematisiert worden, allerdings konnte man sich über einen höheren
Faktor nicht einigen (...). Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtli-
ches Gehör ist unter diesen Umständen nicht gegeben.
3.5.5. Aufgrund der vorangehenden Erwägungen wird deutlich,
dass es einer Gemeinde offen steht, gemäss den Erkenntnissen aus
dem Einspracheverfahren einen berichtigten Beitragsplan erneut auf-
zulegen. Auch die unangefochten gebliebenen Beitragsverfügungen
dürfen angepasst und gegebenenfalls heraufgesetzt werden, da die
Widerrufsvoraussetzungen erfüllt sind. Ebenso hat die Gemeinde die
Möglichkeit, in Verfahren, die nur wenige Grundeigentümer betref-
fen, die öffentliche Auflage durch Einzelverfügungen mit Zustellung
des Kostenverteilers zu ersetzen (§ 35 Abs. 1 BauG). Im Ergebnis ist
die Beschwerdegegnerin so verfahren, dass sie anstatt einer Neuauf-
lage des Beitragsplans die Heraufsetzung des Beitrags des Beschwer-
deführers nach vorangehender Anhörung mittels ordentlich zugestell-
ter Einzelverfügung vorgenommen hat. Dieses Vorgehen im Rahmen
von Einsprachen anderer Grundeigentümer ist nicht zu beanstanden.
Im Weiteren bleibt festzuhalten, dass unter diesen Umständen
eine Rückweisung zur Durchführung eines Einspracheverfahrens
(§ 35 Abs. 2 BauG) einen prozessualen Leerlauf und somit eine un-
nötige Verlängerung des Verfahrens darstellen würde, hat doch be-
reits eine Anhörung des Beschwerdeführers durch die Beschwerde-
gegnerin im Vorfeld der neuen Beitragsverfügung stattgefunden.
3.6. Die Beschwerdegegnerin hat anlässlich der Verhandlung
vorgetragen, dass auf die Beschwerdeanträge 2-4 gar nicht eingetre-
ten werden dürfe. Mit der Nichtanfechtung des Beitragsplans vom
3. März 2003 seien die Perimetergrenze und die Belastung der Par-
zelle akzeptiert worden. Für den Beschwerdeführer müsse zumindest
der erste Plan unverändert gelten (...).
Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Es steht der Ge-
meinde wie gesagt offen, einen neuen Beitragsplan aufzulegen oder
bei wenigen betroffenen Eigentümern neue Beiträge mittels Einzel-
verfügungen festzulegen (...). In beiden Fällen werden neue Beiträge
verfügt, deren Höhe von der Perimetergrenzziehung und der konkre-
ten Belastung jeder einbezogenen Parzelle abhängt. Der neue Beitrag
eröffnet dem betroffenen Eigentümer erneut und in vollem Umfang
den Rechtsmittelweg, selbst wenn er bisher kein Rechtsmittel ergrif-
fen hat. Wird nämlich der Beitrag zu seinen Ungunsten erhöht, so
steht dies in unmittelbarem Zusammenhang mit der neu festgelegten
Perimetergrenze und/oder den neu auf die anderen Grundstücke
angewandten Bemessungskriterien (...). Der Beitragspflichtige ist
unter diesen Umständen nicht an die Grundsätze des alten Beitrags-
plans gebunden, vielmehr kann auch er - wie es ja auch dem
Gemeinwesen durch die reformatio in peius im Rahmen des Wider-
rufs zugestanden wird - eine Entlassung aus dem neuen Perimeter
oder eine Reduktion seines neu festgelegten Beitrags (also eine refor-
matio in melius) verlangen. Aus diesem Grund ist auf die Anträge 2-
4 im Zusammenhang mit dem Strassenbaubeitrag einzutreten (...).